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Hochschulbildung ist auch eine Bildung!

dr wardak mit hochschulminister dr oabid und finanzminister dr zakhilwall in Nanarhar Universität

Dr Yahya Wardak bei einem Vortrag an Nangarhar Universität

dr wardak mit hochschulminister dr oabid und finanzminister dr zakhilwall in Nanarhar Universität

Dr Yahya Wardak bei einem Vortrag an Nangarhar Universität

Einige Gedanken zu Bildungs- und Hochschulpolitik in Afghanistan

von Dr. Yahya Wardak, Hochschulministerium, Kabul

Nach dem Sturz der Taliban (2001=1.000) wurden massiv viele Schulen in Afghanistan gebaut (2014 = 17.000). Sowohl die afghanische Regierung als auch die internationale Gemeinschaft haben versucht, immer mehr Schüler und Schülerinnen in die Schulen zu bringen. Das natürlich, weil zuvor in der Talibanzeit nur ganz wenige Mädchen die Grundschulen besucht haben.

Der afghanische Präsident, der Bildungsminister, aber auch viele ausländische Geldgeber haben immer wieder auf internationalen Konferenzen stolz die steigende Anzahl an Schüler/innen als einen Erfolgsbeweis für ihre Politik und Unterstützung genannt. So spricht man in den letzten Monaten von über 11 Millionen (2001 = 1 Million) Schülern und Schülerinnen in Afghanistan.

Es wurde aber nicht daran gedacht, was mit diesen jungen Menschen nach Abschluss ihrer Schulbildung passiert. Ob sie also danach auch alle einen Beruf erlernen, studieren und auch Geld verdienen. Die Frage stellte sich einfach nicht, ob Millionen von Menschen auch einen Beruf erlernen, sich weiterqualifizieren und Arbeit finden können, um so für sich und ihre Familien Brot zu verdienen.

Sechszehn Jahre nach 2001 haben wir nun circa elf Millionen Schüler und Schülerinnen und davon werden zur Zeit jährlich circa 400.000 – mit steigender Tendenz – die 12. Klasse absolvieren, aber nicht alle können in eine Berufsschule oder eine Universität gehen. Die 34 öffentlichen Universitäten können zurzeit nur ein Teil dieser Bewerber aufnehmen. Alle anderen müssen teuer für ein Studium an den 123 privaten Hochschulen bezahlen oder bleiben auf der Straße.

Da man sich in den letzten 16 Jahren in Afghanistan vor allem auf die Grundbildung konzentriert hat, wurden die Berufsschulen und Hochschulen sehr vernachlässigt.  Als Konsequenz dieser Politik haben wir seit Jahren eine steigende Anzahl von Abgängern der 12. Klassen, die keinen Platz an der Universitäten bekommen. Selbst Hochschulabsolventen finden im afghanischen  Arbeitsmarkt kaum einen Job.

Zum einen hat das mit dem qualitativ sehr schlechten, nicht an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes in Afghanistan orientierten Studium zu tun, zum anderen  damit , dass an den meisten afghanischen Universitäten nur theoretische Grundlagen vermittelt werden, da keine Labore vorhanden sind und auch die Studenten kaum Praktika oder sonstige praktische Module absolvieren. Diese Absolventen ohne praktische Fertigkeiten sind nicht in der Lage, als Arzt oder Ingenieur zu arbeiten. Viele arbeiten in ganz anderen Berufen, als sie studiert haben und auch die Arbeitslosenquote unter Akademikern steigt zusehends.

Wenn wir die medizinische Bereiche in Betracht ziehen, sieht folgend aus:

Viele Patienten gehen ins Ausland, um sich untersuchen und behandeln zu lassen. Warum? Weil Afghanistan nicht gut ausgebildete Ärzte hat! Warum hat das Land so schlechte Ärzte? Weil die Medizinstudenten Jahrzehnte alte handgeschriebene Zettel als einziges Lehrmaterial benutzen sowie keine Labortätigkeit haben und nicht täglich am Bett des Patienten ihre Ausbildung erhalten. Afghanistan muss hier und auch in anderen Bereichen diese Wechselwirkungen und Auswirkungen einer mangelhaften Ausbildung besser begreifen und auch entsprechend handeln, wenn sich nachhaltig etwas verändern soll.

Um hier eine spürbare Verbesserung zu erzielen sollte man die Bildungspolitik in Afghanistan umgehend kritisch überprüfen und neu bedenken. Hierbei darf die Wichtigkeit der beruflichen Bildung und Hochschulbildung für eine nachhaltige Entwicklung des Landes nicht außer Acht gelassen werden.

In Afghanistan sind circa 100.000 ausländische Gastarbeiter tätig, da das Land selber nicht genügend afghanische Facharbeiter hat. Obwohl jedes Jahr hunderte Millionen für den Bildungssektor ausgegeben werden, fehlen viele Facharbeiter z.B. im Bauwesen, Straßenbau, Telekommunikation und vielen anderen Bereichen. In Afghanistan arbeiten viele ausländische Hochschullehrer (oft aus Pakistan und Indien), die an inzwischen über 120 privaten Universitäten unterrichten.

Jährlich werden bis zu 2.000 Studenten ins Ausland geschickt, um dort zu studieren, aber dies ist zu wenig für ein Land mit über 30 Millionen Einwohnern und 30 Jahren Stagnation, bedingt durch die kriegerischen Auseinandersetzungen. Der Bedarf an gut ausgebildeten Fachkräften ist in Afghanistan enorm gestiegen.

Neben Studenten mit einem Auslandsstudium braucht Afghanistan einige Exzellenz-Universitäten, die den Bedarf an eigenen Fach- und Führungskräften decken können. Diese sollten das internationale Wissen nach Afghanistan holen, sowie hier an Afghanen und Afghaninnen weitergeben und landesweit verbreiten. Hier werden auch Frauen Zugang haben, denn viele Mädchen können aus kulturellen und familiären Gründen nicht im Ausland studieren oder sich weiterqualifizieren.

Die akademische Gemeinschaft von Afghanistan ist seit mehr als 30 Jahren hinter dem globalen Wissen zurückgeblieben. Auf der anderen Seite haben sich Wissen und Technik in den letzten Jahrzehnten stark erweitert und weiterentwickelt. Deshalb sind unsere Hochschulen in einem noch größeren Bedarf an aktualisierter Infrastruktur, Laboratorien, Curriculum, Unterrichtsmaterial. Viele diese Mängel können mit der Gründung einer afghanisch-deutschen Universitätbehoben werden.

Die Gelder für den Bildungssektor sollten gerechter verteilt werden. Das heißt konkret, es muss mehr in die Berufsschulen und Hochschulen investiert werden. Dies ist ein Appell an die afghanische Regierung, an das Bildungsministerium, das Hochschulministerium, aber auch die internationale Gemeinschaft und die Donor-Länder, für die Verbesserung der derzeitigen Situation tätig zu werden.

Trotz mehrmaliger Erwähnung durch den früheren Präsident Hamid Karzai wurde die entwicklungspolitische Wichtigkeit der Bereiche Medizin und Ingenieurwissenschaften weder von den afghanischen Verantwortlichen noch von den Geberländern hinreichend erkannt. Einige Geldgeber haben ihre Nischen gefunden, in denen sie tätig sind und den größten Anteil der ihnen zur Verfügung stehenden Gelder ausgeben.

In Afghanistan ist ein Ministerium (Ministry of Education) zuständig für Grund- und Berufsbildung und ein anderes Ministerium für die Hochschulen (Ministry of Higher Education).Kommunikation und Abstimmung sind hier sehr wichtig und sollten verbessert werden. Diese beiden Ministerien müssen miteinander ins Gespräch kommen. Selbst wenn sich dieser Status quo nicht ändert, sollte eine gemeinsame Bildungsstrategie entwickelt werden.

Nur gut ausgebildete Hochschulabsolventen – natürlich nicht nur mit Bachelorabschlüssen, sondern auch Masterabschlüsse und Doktoranden – können sich aktiv an der wirtschaftlichen Entwicklung, Innovationen, Neugründungen und einer funktionierenden Verwaltung beteiligen sowie die zukünftigen Herausforderungen in Afghanistan bewältigen.

Nur so kann Afghanistan in naher Zukunft nachhaltig auf eigenen Beinen stehen. Nämlich, wenn es in die Lage versetzt wird, in den eigenen Ausbildungsstätten von eigenen Professoren nach internationalem Standard ausgebildete und hochqualifizierte Fach- und Führungskräfte im eigenen Land für die eigenen Bedürfnisse auszubilden.

Yahya Wardak, Bonn/Kabul, Juli 2017