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Warum es viele Afghanen nach Hamburg zieht

Veröffentlicht am 23.08.2021 | Lesedauer: 6 Minuten. Von Philipp Woldin, Denis Fengler
Etwa 40.000 Afghanen leben in der Stadt, viele versuchen von hier aus, Angehörige vor den Taliban zu retten. Was können sie tun? Drei Afghanen erzählen von ihrer Woche zwischen Ohnmacht und Hoffnung.
Die Feldjäger der Bundeswehr eskortieren die Menschen auf den letzten Metern, dann hält der Bus an einer Unterkunft in Rahlstedt. 19 Personen steigen aus, es sind
afghanische Ortskräfte und ihre Familien, darunter sieben Kinder im Alter von drei bis 13 Jahren. Für sie endet hier am Mittwochabend eine Odyssee, die Familien sind in Sicherheit, weit weg vom mörderischen Chaos am Kabuler Flughafen. Am Freitag und Sonnabend wiederholten sich die Szenen, insgesamt hat Hamburg
laut Innensenator Andy Grote mehr als 200 Menschen untergebracht. Auch für sie könnte die Hansestadt zur neuen Heimat werden, wie für viele andere Landsleute vor ihnen.
In der Hansestadt leben etwa 40.000 Afghanen. Die Gemeinde ist eine der größten in ganz Europa – und spiegelt die Zerrissenheit Afghanistans wider: Es gibt keine zentrale Gemeinschaft, sondern viele Kleingruppierungen, oft getrennt nach Ethnien und Religionen.
So leben Angehörige der größten Volksgruppe der Paschtunen, der schiitischen Hazara und die sunnitischen Tadschiken und Usbeken auch in der neuen Heimat oft nebeneinander her, aber immerhin ohne von außen wahrnehmbare Aggression. „Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat, sehr heterogen, sprachlich, ethnisch wie auch religiös“, bestätigt Yahya Wardak, Gründer des Hamburger Vereins „Afghanic“. „Das zeigt sich auch hier.“
„Die bekannteste deutsche Stadt“

Die Ankunft in Hamburg fand in Wellen statt. In den 1950er- und 1960er-Jahren zog Hamburg als blühende Hafen- und Handelsstadt viele Kaufleute an. Im Gegenzug exportierten sie chemische Produkte, Autos und Maschinen in die Heimat, sagt Wardak, der mit seinem Verein ein kleines Krankenhaus am Rande der afghanischen Hauptstadt Kabul unterhält. „Hamburg war die unter Afghanen bekannteste deutsche Stadt“, sagt der 55-jährige Tropenmediziner, und sie wurde wohl auch deshalb Ziel der ersten Einwanderer.
Die Community wuchs, als mit der sowjetischen Invasion 1979 die erste Fluchtbewegung einsetzte. Mitte der 1990er-Jahre flohen dann nach dem Abzug der Sowjets viele vor den Taliban. Von Sommer 2015 an setzte die jüngste Fluchtbewegung ein, wieder machten sich viele Afghanen auf den Weg, vor allem junge Männer. Afghanisch geprägte Einrichtungen finden sich heute vor allem im Hamburger Osten, etwa die Ibrahim Khalil Moschee in Billstedt. Die Billstraße mit ihren zahllosen Import-Export-Unternehmungen wird von Afghanen dominiert. Viele Einwanderer haben Restaurants eröffnet oder Lebensmittelgeschäfte entlang des Steindamms in St. Georg. Ungeachtet der Heterogenität in der Community ist die Sorge um die Situation in der Heimat enorm.
WELT AM SONNTAG hat mit drei Afghanen darüber gesprochen, wie sie die letzten Tage seit der Eroberung Afghanistans durch die Taliban erlebt haben.
Hossein Madadi, 25 Jahre, Bäcker, er flüchtete 2011 Gerade erst hat Hossein Madadi seinem Cousin in Kabul am Telefon viel Glück gewünscht.
Der Verwandte habe lange in der afghanischen Armee gedient, nun verstecke er sich an einem sicheren Ort, berichtet Madadi. So geht das den ganzen Tag, Nachrichten und Voicemails fluten sein Smartphone. „Es war für alle ein Schock, dass die Taliban so schnell vorrücken konnten. Wir sammeln uns noch.“ Hossein Madadi kam 2011 als minderjähriger Flüchtling nach Hamburg, ein junger Afghane mit feinen Gesichtszügen, ein begeisterter Ringer.
Er wohnte lange in einer Wohngruppe. Mittlerweile ist er verheiratet und hat einen Sohn, bald möchte er einen Lebensmittelladen in Rahlstedt eröffnen. Doch die alte Heimat lässt ihn nicht los, große Teile seiner Familie, die der Volksgruppe der Hazara angehören, leben in Parwan, etwa 200 Kilometer nördlich von Kabul. Alles sei trügerisch ruhig in Kabul, habe der Cousin erzählt, als ob bald ein Sturm über das Land fege. Von den Beteuerungen der Taliban, das Land befrieden zu wollen, hält er nichts: „Sie verstellen sich für die Öffentlichkeit und den Westen. Niemand sollte ihnen glauben.“ Außerhalb von Kabul, abseits der TV-Kameras,
geschähen schlimme Dinge. Madadi scrollt in diesen Tagen viel durch die Social-MediaSeiten, teilt Aufrufe zur Hilfe, warnt vor einem Massenmord an seiner Volksgruppe, den schiitischen Hazara. Die Taliban betrachten diese als Ungläubige. Von Hamburg aus bleibt ihm nur abzuwarten.
Nilab Langar, 30, Journalistin, kam 2015 Das Flugticket galt für Mittwoch, dann sollten Mutter, Vater und die 16-jährige Schwester aus Kabul in die Türkei ausfliegen. „Es war das schnellste Ticket, das wir organisieren konnten“,
sagt Nilab Langar. Doch es war kein Durchkommen zum Flughafen. Seitdem wartet die 30-Jährige minütlich auf Nachrichten. „Für mich ist die Situation in Afghanistan wirklich traumatisch.“ Die Journalistin empfindet den erneuten Durchmarsch der Taliban wie ein Déjà-vu. Als Sechsjährige erlebte sie die erste Machtergreifung der Taliban hautnah, musste die Schule verlassen, ihre Mutter, eine Lehrerin, musste aufhören zu arbeiten, die Frauen zu Hause bleiben. „Die Situation war für alle extrem schlimm, nicht nur für die Frauen.“
Weil sie 2015 einen kritischen Bericht schrieb und von der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) bedroht wurde, flüchtete sie mit Mann und Sohn nach Deutschland. Aktuell erwartet sie ihr zweites Kind. In Hamburg arbeitet sie für Amal Hamburg!, ein Medienprojekt, initiiert von der Evangelischen Journalistenschule und der Körber-Stiftung. Langar und ihre drei Kollegen berichten auf Arabisch und Persisch aus der Stadt. „In den vergangenen Jahren
haben die Afghanen, insbesondere die Frauen, so viel erkämpft. Sie haben studiert, sich etwas aufgebaut“, sagt sie. „Aber in nur ein paar Tagen ist alles kaputtgegangen.“

Rasoul Kohistani, 65, Gastronom, will helfen Erst am Abend zuvor haben sie im „Watan“, seinem Restaurant am Hammer Deich, zusammengesessen und die Lage in der Heimat diskutiert, bis spät in die Nacht: Bekannte, Freunde, Kollegen. Rasoul Kohistani kommen Tränen, wenn er an die aktuelle Situation in der Heimat denkt, also spricht er lieber darüber, wie er als junger Mann in der Fußball Nationalmannschaft Afghanistans spielte, immer Mittelfeld, und bei Auslandsspielen die Welt kennenlernte, Ostblock, China, Asia-Cup. Dass er als Ingenieur vor den Mudjaheddin floh und eigentlich in die USA wollte, doch dann ein Visum für Deutschland erhielt und blieb.
Drei Häuser hat er gebaut, eine Schnellimbisskette geführt, ist wohlhabend geworden.
Doch sein Herz gehört Afghanistan. Und sein Engagement für die Heimat sprengt alle Grenzen. „Was mich immer angetrieben hat, war die Frage, was man für die Menschen dort tun kann“, sagt Kohistani. Mehrere erfolgreiche afghanische Sportvereine hat er mitgegründet, er fördert afghanische Fußballtalente, produziert eine Art TV-Programm für Afghanen über das Internet, hilft bedürftigen Familien in Afghanistan, unterstützt Flüchtlinge in Deutschland. Sein Netzwerk ist groß, seine Hoffnungen noch größer.
Afghanistan sei ein Land mit unschätzbaren Ressourcen und starken Menschen, sagt er. Und doch sei es nur Spielball der Weltpolitik. Er hofft, dass sein Engagement heute von Deutschland aus irgendwann in der Heimat Früchte trägt. In den letzten Tagen ist dieser Traum wieder ein bisschen kleiner geworden. Doch Kohistani will nicht aufgeben.

https://www.welt.de/regionales/hamburg/article233317215/Evakuierung-aus-Afghanistan-Warum-es-viele-Afghanen-nach-Hamburg-zieht.html