Vortrag von Dr. Yahya Wardak für
Landeskunde und Entwicklungsetappen Afghanistans bis heute
Verein für politische Bildung in Hamburg e.V. und ASB Hamburg-Mitte
am 10. – 11.12. 2022
Bonn – Grundstein falsch gelegt
Es gibt ein afghanisches Sprichwort, das besagt:
„Wenn der Maurer den Grundstein nicht richtig legt, wird die Mauer nicht gerade und haltbar.“
1. Die Kriegsherren und Kriegsparteien wurden eingeladen und wurden als die Vertreter der Bevölkerung, Ethnien und politischen Strömungen dargestellt.
2. Die Taliban als wichtige Instanz wurden an diesem Prozess nicht beteiligt.
3. In Bonn haben die Amerikaner und die Nato entschieden, nicht die Afghanen.
Auch in den 20 Jahren militärischen und zivilen Engagements wurden sehr viele Fehler gemacht und immer weiter Terrain und Menschen an die Taliban verloren. Nach 2001 haben die Taliban immer wieder Friedensangebote gemacht, die aber leider von den Amerikanern und der Regierung in Kabul stets abgelehnt wurden.
Als die Amerikaner nach 18 Jahren militärischen Engagements merkten, dass der Krieg in Afghanistan nicht zu gewinnen ist und die Gegner im Laufe der Zeit immer stärker wurden, handelten die Amerikaner mit den Machthabern in Kabul einen Deal aus, der im Februar 2020 als das Doha-Abkommen bekannt wurde. Damit ebneten sie der Stärkung und der Machtübernahme der Taliban den Weg. Dieses Abkommen umfasste den bedingungslosen Abzug aller NATO-Soldaten. Es ist kein Wunder, dass nach dem vollständigen Abzug der ausländischen Soldaten die Taliban Mitte August 2021 wieder das ganze Land beherrschen konnten. Dies vor allem betrachte ich als das Scheitern der NATO und des amerikanischen Einsatzes in Afghanistan.
Am Tropf der Internationalen Gemeinschaft und kein State Building oder Nation Building
Leider wurden in den letzten 20 Jahren Afghanistan und der afghanische Staat zu einem Patienten, der am Tropf der internationalen Gemeinschaft hing und künstlich am Leben gehalten wurde und der ohne diese Infusion nicht lebensfähig war.
Die USA und die anderen Verbündeten haben nach der Machtübernahme durch die Taliban alle Hilfeleistungen sofort eingestellt. Damit wurden nicht nur der afghanische Staat, die Streitkräfte und viele Institutionen hilflos, sondern auch Tausende Menschen verloren ihre Lebensgrundlage. Zusätzlich wurden bei der sich im Ausland befindlichen afghanische Landesbank alle Geldreserven eingefroren und die USA verhängten Sanktionen gegen Afghanistan. Die Afghanen konnten nicht einmal ihre Ersparnisse und Gehälter von den afghanischen Banken abheben. Zudem kam es zu einem dramatischen Einbruch bei den Importen und Exporten. Aus diesen Gründen hatten sehr viele Menschen kein Geld mehr und das führte zu einer dramatischen Verarmung von Millionen von Menschen. Zusätzlich haben sowohl Corona als auch die Dürre die Lage verschärft. So kann man davon sprechen, dass die schlimmste humanitäre Krise eingetreten ist. Auch sind viele Menschen nach Iran und Pakistan geflüchtet.
Afghanistan ist durch den nunmehr etwa 40 Jahre andauernden Krieg eines der ärmsten Länder der Welt geworden und die Wirtschaft sowie die Infrastruktur sind stark beeinträchtig. Die Menschen können die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse wie Nahrung, medizinische Versorgung und Bildung nicht sicherstellen. Über 70% sind auf humanitäre Hilfe aus dem Ausland angewiesen.
Die neuen Machthaber kümmern sich kaum um die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung. Ein Blick auf die Geschichte des Landes im 20. Jh. zeigt: Dreimal haben die städtischen Machthaber versucht, hastig und teilweise mit Gewalt und gegen deren Willen der ländlichen Bevölkerung ihre „moderne“ urbane Lebensweise und Philosophie und religiösen Ansichten aufzudrängen.
Stadt gegen Land gegen Stadt gegen Land …
Die ländliche Bevölkerung lebt seit Jahrtausenden, von den Städten abgeschnitten, in den Tälern zwischen den Bergen. Sie kam kaum mit den modernen Bewegungen in der Hauptstadt in Berührung. Die Taliban wurden in den Madrassas (religiöse Schulen) erzogen und wuchsen in ländlichen Gebieten auf. Manche von ihnen waren noch nie in einer Großstadt. Um die Politik und das Verhalten der Taliban2 zu verstehen, muss man sich mit dem großen über 100 Jahre andauernden internen Konflikt zwischen Land und Stadt beschäftigen.
Diesen internen Konflikt kann man am folgenden Beispiel verdeutlichen: 2001 wurde bei der Konferenz in Bonn ein neues Ministerium für den afghanischen Staat eingerichtet: Das Frauenministerium. Damit wurde ein Zeichen dafür gesetzt, dass Frauen eine Stellung in der Gesellschaft einnehmen können. Nach der Machtübernahme durch die Taliban 2021, also 20 Jahre später, schafften die Taliban bei der neuen Kabinettsbildung dieses Ministerium wieder ab und ersetzten es durch das „Ministerium zur Wahrung der Tugend“.
Nach der Machtübernahme verhielten sich die Taliban gegenüber der Bevölkerung auch in den Städten zuerst gemäßigt und machten viele Versprechungen. Sie verkündeten allen denen, die in den früheren Regimen mitgearbeitet und auch denen, die mit ausländischen Institutionen zusammengearbeitet hatten, eine Generalamnestie. Auch sagten sie immer wieder, dass sie nicht gegen Bildung und Arbeit der Frauen seien.
Auf dem Weg zum Polizeistaat
Aber nach einigen Monaten, als sie fest im Sattel saßen, beschnitten sie die Freiheiten und Rechte, vor allem der Frauen, nach und nach immer weiter und richteten ihre Politik immer mehr gegen Frauen und ihre Freiheiten aus. Am Schuljahresbeginn am 22.03.2022 hofften alle, vor allen die Mädchen, dass sie nach langer Corona- und Winterpause wieder zur Schule gehen könnten. Aber an dem Morgen, als viele Schülerinnen vor ihren Schulen standen, hieß es plötzlich: „Nein, die Mädchen ab der 7. Klasse dürfen bis auf Weiteres ihre Schulen nicht mehr besuchen.“ Das war der größte Schlag und die größte Enttäuschung, nicht nur für die Schülerinnen, sondern für ein Großteil der Bevölkerung Afghanistans.
Außerdem halten die Ministerien in der Stadt die Bevölkerung immer wieder dazu an, keine westliche Kleidung zu tragen, ihre Bärte nicht zu rasieren und zum Gebet in die Moschee zu gehen. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst auch aufgrund der katastrophalen Lage der Wirtschaft, der Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit und der immer weiter wachsenden Einschnitte und Eingriffe in die Lebensführung der Menschen. Afghanistan ist unter den Taliban auf dem Weg, zu einer Diktatur und einem Polizeistaat zu werden. Immer mehr Intellektuelle und andere kritisieren diese Politik öffentlich.
Evakuierung und Folgen
Nach der Machtübernahme durch die Taliban Mitte August kam es zu einer panikartigen Flucht der Regierungsbeamten und der Menschen, die mit internationalen Organisationen kooperiert hatten. Die Lage verschärfte sich noch, als manche Länder vermeldeten, dass alle, die es zum internationalen Flughafen in Kabul schafften, mit Chartermaschinen aus dem Land gebracht werden würden. Deshalb stürmten Tausende verzweifelte Afghaninnen und Afghanen ohne gültige Papiere und ohne Visa den Kabuler Flughafen, was zu einem Desaster führte.
Alleine nach Deutschland wurden in den letzten 10 Monaten ca. 20.000 Ortskräfte mit ihren Angehörigen und andere gefährdete Menschen evakuiert. In einer neuen Studie des BAMF wurde Folgendes ermittelt: „im Vergleicht zu 2017 kommen weniger Menschen ohne formelle Schulbildung – dafür haben fast doppelt so viele von ihnen eine Hochschule besucht.“ Ich freue mich für jeden Menschen, der Afghanistan verlässt und mit seiner Familie in Sicherheit und Wohlstand im Ausland lebt. Aber ich bin traurig und nachdenklich, wenn ich daran denke, dass diese Menschen in ihrem Land dringen gebraucht werden und nun dort fehlen. Ich kenne einige Fachärzte, die im Zuge dieses Evakuierungsprozesses nach Deutschland gekommen sind. Nun frage ich mich, wer nun deren Patienten behandelt und wie die medizinische Versorgung der etwa 30 Millionen im Land Gebliebenen sichergestellt werden soll. Auch wurden sehr viele Dozenten nach Deutschland evakuiert und ich habe erfahren, dass eine der größten Schwierigkeiten an den Universitäten darin besteht, den akademischen Unterricht sicherzustellen und qualifizierte Lehrkräfte zu finden.
Wenn wir das Personal der vom Verein Afghanic e.V. unterstützen Klinik in Dewanbegi evakuiert hätten, dann hätten die 150 Menschen, die jetzt dort täglich Hilfe finden, keine Möglichkeit, an medizinische Versorgung zu kommen, und täglich könnten nicht 30 Frauen und Kinder geimpft werden. Daher sind diese Evakuierung und ihre Auswirkungen auf das Lande kritisch zu sehen.
Evaluierung – Leider zu spät für Afghanistan
In den letzten 20 Jahren habe ich fast in jedem Vortrag gesagt, dass vieles in Afghanistan nicht richtig läuft und dass als das Dringlichste und Wichtigste anzusehen ist, dass eine kritische und unabhängige Bestandsaufnahme des Politischen und Militärischen, der Entwicklung, Zusammenarbeit und Hilfeleistungen in Afghanistan in den Fokus gestellt werden muss. Selbst die Amerikaner haben vor einigen Jahren für ihr Engagement eine Kommission unter der Leitung des sehr engagierten und energischen Sopko (SIGAR – Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction) ins Leben gerufen und sie hat viele Fehler ans Tageslicht gebracht.
Auch einige europäische Länder haben vor vielen Jahren ihr Afghanistan-Engagement kritisch evaluiert. Ich begrüße zwar, dass Deutschland nun endlich sein Afghanistan-Abenteuer evaluieren möchte, aber es wird die begangenen Fehler nicht korrigieren können und auch die Milliarden an Steuergeldern nicht zurückbringen, die fehlinvestiert wurden.
Gleiche Fehler wie in den letzten 20 Jahren
Leider haben die internationale Gemeinschaft und auch Deutschland aus den Fehlern der Vergangenheit nichts gelernt. Leider machen sie immer wieder dieselben Fehler wie in den letzten 20 Jahren.
Die internationale Gemeinschaft hat in den vergangenen Jahren die korrupten politischen Eliten unterstützt und die waren auch ihre Gesprächspartner und nicht die wahren Vertreter der afghanischen Bevölkerung.
Meine Forderung
Ich fordere, dass wir bei unserem Engagement in Afghanistan eine Politik machen, die vor allem die notleidenden und sehr armen Menschen berücksichtigt.
Das heißt, an erster Stelle müssen endlich deren Bedürfnisse, Wünsche und Prioritäten stehen. Sie müssen im Fokus unserer Zusammenarbeit stehen und die Entscheidung darüber, was wir tun und was wir nicht tun sollten, muss sich an ihnen ausrichten.
Statt Regime und Machthaber zu unterstützen oder zu bekämpfen, sollten wir Armut, Hunger und Ungerechtigkeit bekämpfen und uns für die Befriedigung der Grundbedürfnisse: Ernährung, Bildung und medizinische Versorgung aller Menschen in Afghanistan, auch der ländlichen Bevölkerung, einsetzen. Es gibt viele gute Ansätze und Projekte aus Deutschland – sowohl der Zivilgesellschaft als auch der Regierung – in den Bereichen Bildung und Gesundheit, die Jahrzehnte anhaltende wertvolle Arbeit für die Bevölkerung in Afghanistan geleistet haben und leisten. Diese sollten in ihrer Arbeit aus Deutschland schnellstmöglichst unterstützt werden. Diese Organisationen haben in ihrer Jahrzehntelangen Arbeit nicht die früheren Machthaber unterstützt, sondern sich immer für die notleidenden und bedürftigen Menschen eingesetzt und sie werden auch in der aktuellen Situation an den Machthabern vorbei die Menschen erreichen.
Dr. Yahya Wardak
Bonn, 5.12.2022
0174 7417306 I wardak@afghanic.de I www.afghanic.de